Maschau
O : Sach ma, Meme. Weißt Du wie alt ich bin?
M : Grad mal neunzig.
O : Grad mal neunzig. Das ist nicht alt, nee?
M : Du bist noch eine junge Greisin.
O : Ne junge Greisin … und verliert schon den Verstand?
M : Eigentlich nicht. Nur das Kurzzeitgedächtnis. Man muss immer Sachen fünfmal erzählen. Aber wenn man es Dir ein paar mal erzählt, dann hast Du es irgendwann.
O : Dann hab ich das für alle Zeiten?
M : Für alle Zeiten wohl nicht. Die neuen Sachen wollen nicht mehr rin in den Kopp. Nur die ganz alten Sachen, die von ganz früher, die vergisst Du nicht.
O : Ach Gott Meme. Wer wird schon so alt wie ich? … (Denkt nach. Dann plötzlich) Poldi! Die ist dreiundneunzig geworden. Ach Gott, Poldi … Und ihre Mutter hat immer so schön gekocht. Ne Suppe oder irgendwas. Da gab’s immer was warmes. Und wenn es nur Bratkartoffeln waren. Oder in der Olmer war was warmes drin zu essen. Das war üblich im Sudentenland. Mir hat’s da immer gut gefallen. Erzähl ich ja auch oft, nicht?
M : Mein ganzes Leben lang schon.
O : Da warst Du noch nie, wa?
M : Nee, aber vielleicht fahre ich mal hin und gucke mir die Orte an, von denen Du immer erzählt hast.
O : Ja. Maschau … Strandbad …
M : Wir können eigentlich mal im Internet gucken nach Fotos. Hättest Du Lust?
O : Jetzt gleich? Machen wir das hier?
M : Ja. Ich hab meinen Computer dabei.
O : Dann zeig ich Dir mal, wo die Verwandtschaft wohnte. Kannst Du das auf deutsch eingeben?
M : Noch besser ist auf tschechisch. Dann findet man mehr. Das ist ja heute Tschechien.
O : Das haben wir ja nicht.
M : Doch, das kann man nachschlagen.
O : Ach weeßte. Was die Technik heute alles so bringt.
M : Da brauch man gar kein Gehirn mehr.
O : Und was gibst Du ein? Maschau?
M : Genau … Moment … erstmal Internet … (Fummmelt noch mit Handy, Hotspot und WLAN herum). Auf tschechisch heißt das Mastov.
O : Ja. Und was sieht man da?
M : Kannst Du das erkennen?
O : Warte mal, werd ma die Brille aufsetzen … (Kramt herum, setzt Brille auf, Brille kommt mit Kopfhörern ins Gehege.) Watt isn’t dit hier? Hab ick mich verheddert?
M : (Hilft Oma die Kabel zu entwirren) Am besten erst die Brille. Dann die Ohren drüber.
Meme und Oma gucken in den Computer.
O : Nee. Dit soll Maschau sein? Ach ja, hier ist der … nee … nee … mach mal noch watt weiter. Mehr rechts … der Ziegenberg … Watt denn, dit is ooch Maschau? Dit Schloss?
M : Mmh. Da steht „Schloss Maschau“. (Scrollt weiter durch die Bilder.)
O : (jauchzt) Maschau! Da war ich so glücklich! Dit war die Kirche, wa? Oben auf’m Berg. Auf’m Kirchberg. (Meme scrollt weiter.) Gasthaus? Oder watt suchste? Warte mal … Ick erkenn dit ja nicht, Meme. Gibt et noch watt?
M : Vielleicht sieht das heute auch anders aus als früher.
O : Ja … Kannste dit deutlicher machen? Ja! Äh, dit gelbe … hier ist ’ne Gastwirtschaft, wa?
M : Na, jetzt ist da keine mehr, glaube ich. Aber vielleicht war da früher eine.
O : Ja, die Verwandtschaft hatte doch da ’n großes Gastzimmer. Und hier oben waren Fremdenzimmer. Und dit hier war der Nachbar. Ja … Maschau … Kannste da noch watt andret einstellen, watt, wo ick ooch so jern jespielt habe? (Gerührt) Maschau … mein Gott, so … (Wieder fest) Das ist der Marktplatz, nicht? Und hier unten ist der Apotheker und die Drogerie. Nicht? Und das hier ist das Rathaus. Nicht?
M : Das weiß ich alles nicht, Oma. Ich war ja da noch nie.
O : (Aufgeregt) Doch, da war ein Kino drin! Warte mal … ach, die Kirche! Die ist ja oben auf dem Berg. Und das hier ist das Schloss. Und hier?
M : Das ist auch nochmal das Schloss.
O : Weeß ick ja nicht mehr. Ist wohl von der andern Seite, wa … Der Wald, ja? … Und das?
M : Das ist alles auf tschechisch.
O : Und was ist das?
M : Sieht aus wie ein Friedhof. Das ist auch am Schloss. Warst Du am Schloss mal oben?
O : Na klar, da haben wir ja jespielt. Schloss Maschau … Das war ja dann ein Arbeitsdienstlager. Also später, bei den Nazis … Für Frauen. Für Mädchen. So bis 18, 20 müssen die gewesen sein. Und jünger. Die mussten bei den Bauern arbeiten. Alle wurden dann ja irgendwie in den Arbeitsdienst geschickt, wenn sie mit 14 aus der Volksschule kamen. Und die hier waren meist aus Dresden. Und Bautzen. Und das hier?
M : Das weiß ich nicht. Irgendein Gebäude. Sieht auch aus wie ’ne Kirche. Da ist oben ein kleines Kreuz drauf.
O : Ach, die haben doch überall ’n Kreuz jehabt. Das ist hier ist die richtige Kirche. Da hat Poldi oben im Chor jesungen. Und ick war ooch oben. Und hier? Das ist das Gasthaus, oder?
M : Das ist ein weißes Haus mit Rundbogenfenstern unten. Waren die Fenster Rundbogenfenster? Weißt Du das noch?
O : Das hab ich gar nicht mehr in Erinnerung.
M : War die Gastwirtschaft direkt am Marktplatz?
O : Ja, der Marktplatz war gleich dahinter.
M : In der Nähe vom Rathaus? In der selben Straße?
O : Ja, auf dieser Seite. Und mit soner Rundbogeneinfahrt.
M : Vielleicht finden wir es noch. (Fährt mit Google Street View die Straße hoch.)
O : Halt! Hier müsste es sein! Ist hier so ein großer Rundbogen, so eine Einfahrt, ein großes Tor?
M : Ja, da, bei dem gelben.
O : Ja, da waren wir. Das war ein großes Haus an sich. Und welche Farbe hat das jetzt?
M : So ein dunkleres Gelb. Sonnengelb-Ocker. Aber da sind mehrere Häuser mit so einer Rundbogeneinfahrt.
O : Das ist alles da so gewesen, weil die ja da mit ihren Kutschen und Kornwagen reingefahren sind.
M : Und war hinten auch ein Stall?
O : Mehrere. Wieso? Kannst Du da den Hof sehen?
M : Warte mal kurz … (Schaltet um auf Satellitenansicht)
O : Soll ich mir die andere Brille aufsetzen?
M : Na, wenn’s hilft. Deine Augen sind nicht mehr die besten, Omchen. Ob nun mit Brille oder ohne. (Schaut die Satellitenansicht an.) Hattet ihr Bäume im Hof? Hohe Bäume?
O : Ja, ein Süßkirschbaum. Und ein kleiner Garten. Und Rosen hatten die Tanten überall. Und ’ne Pumpe war ooch da. Und dann eben ein Schlachthaus. Eins für Schweine und Ziegen und Lämmer. Und weiter oben war ein Schlachthaus für Rinder. Ochsen und Großvieh eben.
M : Mit oben meinst Du den Berg hoch? (Schaltet zurück auf Straßensicht.)
O : Ja. Das hier ist es doch!
M : Kann sein. Aber ich glaub, so sehen da alle Häuser aus. Das hier ist es wahrscheinlich nicht. Die Einfahrt ist zu klein. Das ist nur eine Tür.
O : Nee, das war ja ein großes Tor. Und links war der Fleischerladen und rechts das Gasthaus. Und oben waren alles Fremdenzimmer. Das ist das Haus, in dem mein Vater groß geworden ist.
M : Und war die Einfahrt links oder rechts, wenn man vor dem Haus stand?
O : In der Mitte!
M : Dann ist es das hier nicht. Aber das hier vielleicht. Das hat eine große Einfahrt. Es wird ein bisschen umgebaut sein jetzt. Aber an der Ecke war es nicht, oder?
O : Nee, es war in der Reihe.
M : Gab’s Fachwerk?
O : Das weiß ich nicht mehr. Es war mehr am Marktplatz. Fahr mal zurück.
M : Wieviel Zimmer waren denn das ungefähr oben?
O : Hm, fünf?
M : Das könnte es sein. Vielleicht steht es aber auch nicht mehr. Denn hier ist eine Lücke.
O : Ach so, das kann sein. Da waren ja Kampfhandlungen.
M : Aber so viele auch wieder nicht. Das meiste steht ja noch. Eins von denen hier wird es sein.
O : Ach klar, hier ist die Einfahrt! Und das hier war der Laden. Und oben Fremdenzimmer. Kannst Du mal oben…? Aber das war doch länger!
M : Ist zu klein das Haus, ne. Das finden wir jetzt vielleicht nicht mehr raus. Aber hier können wir noch ein bisschen weiter durch die Stadt streifen, wenn Du möchtest. Wir können ja mal Deine Schule suchen. (Fährt mit Google Street View die Straße hoch.)
O : Die Schule ist gegenüber von der Kirche!
M : Diese Kirche hier? Mal gucken, ob wir hier um die Ecke kommen … nee, geht nicht …
O : Da müsste noch ein Brunnen sein. An der Schule. Wo die Kirche ist! Wo ist die Kirche?
M : Geduld. Man kommt hier grad nicht lang. Wir können nicht abbiegen. Aber wir können ja mal hier lang fahren.
O : Manches wird vielleicht auch anders sein.
M : Bestimmt. Ist ja schon ein Menschenleben her, dass Du da warst. Du bist jetzt 90 und warst dort mit 10. Das ist 80 Jahre her.
O : Ja … Alles schon lange her … ’39, ’40 … bis ’42 war ich da. Ist da noch was zu sehen?
M : Sommerfrische Maschau!
O : Sommerfrische, ja? So hieß es ja früher immer. Sommerfrische. Ja … Maschau … da war ich gerne. Meine Mutter war auch gerne da. Und mein Vater war da zu Hause. Ach! Der Brunnen! Drei waren da. Und das war alles reines Wasser, das kam von den Bergen runter. Und da waren drei solche Brunnen gewesen. An der Kirche, dann bei der Gastwirtschaft, und etwas weiter unten nochmal einer.
M : Und das konnte man trinken?
O : Ja, das hat gut geschmeckt. Das haben die Frauen abgefüllt und als Karlsbader Sprudel verkauft, in der Stadt, in Podersam oder in Saatz. Und da ist auch jetzt noch Betrieb? Also Menschen wohnen da?
M : Na klar.
O : Waren ja alles schöne Häuser. Die Gastwirtschaft hatte einen großen Speisesaal und ’ne große Küche. Und Fremdenzimmer. Da kamen die Leute aus Dresden und Prag und haben Urlaub gemacht. War ja ne schöne Gegend. Aber Gegend haben wir nicht, ne?
M : Doch. Hier ist noch ein bisschen Gegend.
O : Liegt doch schön, nicht? Im Duppauer Gebirge. Aber da kann man jetzt nicht hin, ne? Ist Sperrgebiet.
M : Also, man kann da schon hin. Ist nur ein bisschen schwierus … (lacht) schwierus … Schwierig! Wegen dem Virus. Man kann nicht einfach so in ein anderes Land reisen. Man muss sich testen lassen, man braucht Papiere und eine Arbeitserlaubnis und so weiter.
O : Ach herrje.
M : Aber ich glaub, wenn man heimlich rüberwandert durch die Berge geht’s. (Scrollt weiter. Plötzlich) Schwimmbad, Oma!
O : (Erfreut) Ach jaaa! Hier waren immer die kleinen Kinder, und dahinter waren wir. War ein schönes Schwimmbad. Hab ick ooch rinjepinkelt. Und da die Liegewiese, und das hier war alles mit Holz, da konntest Du Dich dann sonnen. Und von dem Turm sind die Jungs immer runter gesprungen und haben gerufen „Bomben auf England!“
M : Ganz schön hoch, der Turm.
O : Ein Meter, drei Meter und sechs Meter waren die Sprungbretter. Aber sechs Meter sind nur die Jungs gesprungen. „Packts die Badehosen ein, wir gehen morgen schwimmen“, hat der Lehrer gesagt. Stell Dir mal vor, das konnte der Lehrer bestimmen!
M : Und das Schwimmbad war am Fluss? Oder von wo wurde das gespeist? Von wo kam das Wasser?
O : Das Wasser war ganz frisch. Ein Bach floss da lang. Und das Wasser kam aus dem Bach. Ganz klares Wasser. Und ist das hier noch ein Gebäude?
M : Ja, hier ist so eine Hütte und da hinten auf der Wiese ist noch so eine Art Scheune.
O : Die Verwandtschaft hatte da noch einen Kiosk.
M : Am Schwimmbad direkt?
O : Ja. Da haben sie alles mögliche verkauft. Die Tanten hatten Kuchen gebacken und Salate und Würstchen, „Extrawurst“, so eine Jagdwurscht, aber etwas dünner. War ganz schön groß, Maschau, wa?
M : (lacht) Ganz schön klein, finde ich. Beschaulich.
O : Ja, Memchen … Da hast Du mir viel Freude gemacht. Das war ein richtig schöner Sonntag. Maschau! Und wenn Du mal da bist, kannst Du ja gucken, ob Du das Haus findest.